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Feindkontakt vor der Armenhilfe

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Dienstagmorgen in Donezk. In ewig langen Schlangen harren Menschen vor vielen öffentlichen Gebäuden aus – so wie jeden Morgen, seit Separatisten ihre „Volksrepublik Donezk“ proklamiert haben und die Kiewer Regierung hier nichts mehr zu sagen hat. In der nach dem Sozialisten Atjom benannten Hauptstraße vor Nummer 114, wo eigentlich das Finanzamt des Gebiets Donezk untergebracht ist, teilen die neuen „Beamten“ Hilfe für die Armen aus. Vermutlich zahlt Russland die Hilfen, denn die Separatisten-Republik hat bisher keine legalen Einnahmequellen.

Zunehmend wird die Stimmung hysterisch, ein Gorilla lässt niemanden durch die Tür. Manchmal verlassen Menschen weinend das Haus, wohl weil sie keinen Anspruch auf Nothilfe haben. Nach welchen Kriterien die „DNR“ genannte „Volksrepublik“ die Hilfen verteilt, lässt sich hier nicht erzählen: Der zuständige „Minister“ sei beschäftigt, heißt es im „Ministerium“ zwei Tage in Folge. Als die wütende Menge die Kamera des WiWo-Fotografen Nils Bröer entdeckt, bricht sofort ein Tumult aus. Was macht ihr da? Wer seid ihr? Aus der Ferne sind an diesem Morgen wieder die Einschläge von Kanonen zu hören. Manch einer fürchtet, Spione könnten die Stadt auskundschaften, um den Angreifern Informationen für „Bombardements“ zu liefern.

Erst Geschrei, dann Tränen, vorerst keine Fotos mehr. Die Fronten für die Damen fortgeschrittenen Alters sind klar: „Ihr Deutsche schreibt Lügen über uns“, sagt eine Frau, die das von Bekannten gehört haben will. Welche sie meint, sagt sie nicht. Beim russischen Sender Life-News habe sie gehört, dass alle westlichen Journalisten von den USA gekauft seien. „Wer hat euch befohlen, nach Donezk zu fahren?“, will eine Frau wissen. Es scheint ihr schwer zu fallen zu verstehen, dass deutsche Journalisten ihre Recherchen ohne das Einverständnis aus Washington bestimmen können. Oder dass wir den Anspruch haben, sowohl die Positionen der Menschen in Donezk wie auch jene derer in Kiew anzuhören.

So feinfühlig wie möglich versuche ich, die alten Frauen zu beruhigen. Tag und Nacht hören sie die Einschläge von Granaten und Raketen, oft mischt sich Sperrfeuer aus Maschinengewehren hinzu. Für die einfache Bevölkerung in Donezk steht zweifellos fest, dass die ukrainische Armee „uns bombardiert“. Die Regierung in Kiew bringe ihr eigenes Volk um, heißt es unisono aus den Mündern der Mittellosen. Was sich exakt mit jener Lesart deckt, die seit Monaten russische Fernsehsender verbreiten.

Was die wenigsten Menschen an diesem Tag zu wissen scheinen: Es sind die Separatisten, die schießen. Und zwar auf den Flughafen, wo sich die letzten erbärmlichen Reste der ukrainischen Armee verschanzt haben. In den vergangenen Monaten haben die Kiew-treuen Kämpfer zuweilen zurückgeschossen und manch ein Haus getroffen. Treffsicher sind die Soldaten mit ihrem alten Material sicher nicht. Es gab unnötige zivile Opfer. Moralisch muss man die Frage stellen, ob sie wegen erwartbarer „Kollateralschäden“ hätten schießen dürfen. Aber wenn die Separatisten stets aus Wohnvierteln ballern, provozieren sie auch Gegenangriffe – und nehmen zivile Opfer zumindest in Kauf. Sind die Leben der eigenen Bürger nichts wert? Diese Frage stellen sie sich nicht in Donezk. Und im russischen Fernsehen ist davon auch nichts zu hören.

Nach dem aufgeladenen Gespräch mit den alten Damen wird mir klar: Donezk wird nie wieder ein Teil der Ukraine werden. Zu tief hat sich die Propaganda der Russen in die Köpfen der Menschen gebrannt und dort alte Feindbilder zum Leben erweckt. Zu tief sind die Gräben, die die Ukraine während der Kämpfe gerissen hat – ob mutwillig oder fahrlässig. Die nie umgesetzte Ankündigung etwa, wonach die russische Sprache verboten werden soll, nehmen die Menschen in Donezk der Kiewer Regierung bis heute übel. Deren Protagonisten haben seit Beginn der Maidan-Bewegung im November vor knapp einem Jahr nichts unternommen, um den Menschen im pro-russischen Osten ihre Ziele zu erklären.

Schließlich wollen die Frauen trotzdem von mir wissen, wie ich die Zukunft der „Volksrepublik“ sehe, an die sie so fest glauben. Mehr als trübe. Isoliert vom Handel mit dem Rest der Welt wird der besetzte „Donbass“ wirtschaftlich zugrunde gehen, denn allein vom Export nach Russland konnte die Gegend noch nie leben. Es wird darauf hinauslaufen, dass Moskau die Region mit finanziellen Hilfen halbwegs über Wasser halten muss. Aber so stabil wie in der Ukraine rund ums Jahr 2007 oder gar wie zu Sowjetzeiten wird das Leben in Donezk unter diesen Bedingungen nie mehr werden. An die Schlagen vor der Nothilfe-Stelle werden sich die Menschen gewöhnen müssen.

Donezk, im November

Und hier noch ein paar Aufnahmen aus Donezk, die unser Fotograf Nils Bröer geknipst hat:

Donezk2 Donezk1 _MG_0663

 


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